Herrschaftskritik und emanzipatorisches Handeln

In der allgemeinen Inflation des „Hegemonie“-Begriffs will ein Sammelband praktischer Philosophie „Mit Gramsci arbeiten“.

Es könnte gesagt werden, dass Gramscis Begriffsbildung des Hegemonialen selbst hegemonial geworden ist. Auch seine Politik- und Denkangebote – wie Zivilgesellschaft, passive Revolution, integraler Staat, Fordismus, Subalternität, organischer Intellektueller, Alltagsverstand – erleben nicht nur ein Revival in gewissen (links)intellektuellen Szenen, sondern sind bis in den semipolitischen Alltagsgebrauch gekommen – und damit teilweise auch verkommen. Das lässt sich z.B. am Ankommen des Begriffs der Zivilgesellschaft in der sog. Zivilgesellschaft bemerken, wodurch – wie immer, wenn eine Verallgemeinerbarkeit statthat – das kritische Potenzial verwässert wird. Das betrifft eben auch die inflationäre Konjunktur der „Hegemonie“, ohne deren Erwähnung kein Diskurs, der was Fortschrittliches auf sich hält, auszukommen scheint.

Alltags-/Wissen und Veränderung …

Dem möchte eine neue Publikation nicht entsprechen, also vorrangig nicht „den bestehenden sekundäranalytischen Zugang erweitern zu wollen … sondern im Sinne der Gramscischen Grammatik … Begriffe in ihrer Konjunktur im wissenschaftlichen Vokabular wie im alltagsverständlichen Gebrauch, und gegenüber veränderlichen Politiken zu hinterfragen, sie anzugreifen, umzuschreiben und neu zu positionieren, abzulehnen oder fortzuschreiben. Eine analytische Herangehensweise, die Gramsci bis heute hoch aktuell sein lässt, vor allem weil sie der reduktionistischen und deterministischen Schließung von Begriffs-, Geschichts- und Praxisdeutung vorbaut, die sein Werk aber auch erst vielfach anschlussfähig und umstritten macht.“ (Vorwort)

Schon der Titel indiziert einen Arbeits/Prozess – auch in der Anstrengung des Verstehens der fragmentarischen Form der erst seit fünf Jahren vorliegenden deutschsprachigen kritischen Gesamtausgabe der Gefängnishefte – und kein Programm; jedoch die Option, mit Gramscis Analysen und Anregungen politisch-praktisch tätig werden zu können. So kommen in dieser Publikation Autoren (und eine Autorin!) zu Wort, welchen es zum Großteil darum geht, nicht nur (auf) eine innertheoretische Metaphilosophie „abzufahren“, sondern soziale, politische und wissende Praxis anhand der Denkvorschläge von Gramsci zu reflektieren, zu kritisieren oder anzuvisieren.

… mit Gramscis Grundlagen

Einige Beispiele: Mario Candeias beschäftigt sich auf Grundlage der Hegemonietheorie mit den neoliberalistischen Transformationen und der merkwürdigen Zustimmung durch die Subalternen; Frigga Haug beschäftigt sich auf Grundlage von Gramscis Bedingungsverhältnis zwischen Produktionsweisen und der Disziplinierung der (Sexualität der) Individuen mit aktuellen ideologischen Vereinnahmungen der ehemals marginalisierten Forderungen der Frauenbewegung; Ingo Lauggas beschäftigt sich auf Grundlage der Überlegungen zu Alltagskultur und -verstand mit dem Einfluss von Gramsci auf die britischen Cultural Studies und der Ernstnahme der historisch spezifischen Erfahrungen des Alltags als Ausgangspunkt für kritische Kulturwissenschaft; Uwe Hirschfeld beschäftigt sich auf Grundlage der Figur des „organischen Intellektuellen“ mit dem Typus der sozialarbeitenden ProfessionistInnen, die sich in den zugerichteten Formen von sozialer Arbeit bestenfalls als „fraktionierte Intellektuelle“ sehen ließen; Andreas Merkens beschäftigt sich auf Grundlage der Turiner Rätebewegung und der Intellektuellentheorie mit dem pädagogischen Prozess kollektiver Selbstbildung als Voraussetzung zu befreiungspolitischer Handlungsfähigkeit; Oliver Marchart beschäftigt sich auf Grundlage der Hegemonietheorie mit deren analytischer Fortschreibung durch Ernesto Laclau/ Chantal Mouffe und deren politikanleitende Diskursarbeit für eine radikale und plurale Demokratie; Wolfgang F. Haug beschäftigt sich auf Grundlage Gramscis philosophischer Grammatik mit der Notwendigkeit der Reaktualisierung marxistisch- dialektischer Denkarbeit zur Kritik der Ideologie, der politischen Ökonomie, des Objektivismus zur Refundierung gesellschaftspolitischer Gestaltungsoptionen.

Gramscis politische Theorie, von ihm selbst – in Rücksicht auf faschistische Zensur – als „Philosophie der Praxis“ (und nicht als Marxismus) bezeichnet, ist heute – in Hinsicht auf Kritik an den Beständen und Handeln fürs Nichtbestehende – ernst zu nehmen. Theorien der Praxis und die Praxis der Theorien sind das, was fehlt.

Andreas Merkens, Victor Rego Diaz (Hg.): Mit Gramsci
arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung
Antonio Gramscis, Argument Verlag, Hamburg 2007


http://www.malmoe.org/artikel/widersprechen/1581

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